Donnerstag, 20. Dezember 2012



Buchpräsentationen
Ab November haben wir unsere Favoriten der zwei Nominierungslisten anderen Jugendlichen und Erwachsene vorgestellt.
In kleinen Gruppen haben wir drei Veranstaltungen in Bibliotheken und im Haus von LesArt durchgeführt: ein literarisches Frühstück für eine Schulklasse in einer Bibliothek , ein Buchvorstellung im Rahmen des nationalen Vorlesetags in den Räumen von LesArt und eine weitere interaktive Buchvorstellung in einer Schule.



Gemeinsam haben wir bei einem offenen Abend im Literatur-Forum im Brecht Haus uns, unsere Herangehensweisen, unsere Favoriten und unsere Leseeindrücke Erwachsenen und Jugendlichen vorgestellt.
Im Mittelpunkt der Veranstaltungen standen die Bücher Der Märchenerzähler von Antonia Michaelis, Die Zeit der Wunder von Anne-Laure Bondoux und Vango von Timothée de Fombell. Hier eine Kurzfassung unserer Einschätzung der Bücher, die bei den Veranstaltungen durch Vorlesen, Gespräch und Diskussion begründet wurde.
Die Wochenzeitung Der Freitag besuchte unsere Veranstaltung und berichtete.



Unsere Meinung ist ...


Der Märchenerzähler
Antonia Michaelis
Verlag Friedrich Oetinger
Inhaltsangabe des Verlags
Jurybegründung Jugendjury DJLP 2012







„Erst später, viel später, erst zu spät würde Anna begreifen, dass dieses Märchen tödlich war.“

 Der Märchenerzähler von Antonia Michaelis, der 2012 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, handelt von Anna Lehmann, einer 17-jährigen Abiturientin aus Greifswald an der Ostsee. Durch einen Zufall lernt sie Abel kennen, einen zwielichtigen Außenseiter aus Annas Schule. Doch Anna entdeckt Abels verborgene Seite; Er ist der Märchenerzähler und das Märchen, das er seiner Schwester Micha erzählt, ist außergewöhnlich, blutig und zugleich rührend.

Bereits das ansprechende Cover hat uns zum Lesen dieses Buches bewegt. Das Besondere dieses Covers ist, dass vom Schutzumschlag zum Hardcover Gegenständen und Personen verschwinden, sie nicht mehr abgebildet werden. Das sich damit auftuenden Rätsel ist es, das das Buch für uns interessant machte. Unsere Erwartung einer spannenden Geschichte wurde nicht enttäuscht: Mit diesem Jugendroman gelingt der Autorin die Verwebung von drei Genres: dem Märchen, dem Krimi und der Liebesgeschichte. Diese Verwebung wird besonders in Abels Charakter deutlich, Er ist ein begnadeter Märchenerzähler, mysteriös und verschwiegen wie ein Krimineller, kann aber auch so einfühlsam wie ein Liebhaber sein.  

Die sich zwischen Anna und Abel entwickelnde Liebesgeschichte lässt sich schön lesen, ist allerdings vorhersehbar. In jeder Liebesgeschichte ist es schließlich so, dass zwei Menschen aus unterschiedlichen Verhältnissen zusammenfinden. So entdeckt Anna, das Mädchen aus einer gutbürgerlichen Familie, gemeinsam mit dem Leser die Welt außerhalb ihrer „Seifenblase“, die raue Seite der Gesellschaft. Gerade dafür steht Abel: Er ist täglich mit Drogenhandel und Prostitution konfrontiert, hat Probleme mit dem Jugendamt und kümmert sich dennoch liebevoll um seine Schwester. Durch ihn erkennt Anna andere Perspektiven des Seins und erlebt ihre erste Liebe.

Doch Anna überlegt, ob ihre Liebe zu Abel moralisch vertretbar ist. Und der Leser überlegt bis zum Ende, ob Abel der Täter der ungeklärten Mordfälle sein könnte.
Es ist der Krimi, der die Spannung bis zur letzten Seite aufrecht erhält und den Leser praktisch zum Weiterlesen zwingt. Dabei wird man durch falsche Fährten und Nebenschauplätze in die Irre geführt.

Das Märchen hingegen leitet durch die Geschichte und hilft dem Leser, Zusammenhänge zu verstehen, nimmt sie aber teilweise auch vorweg. Es macht beinahe die Hälfte des Romans aus und sein Ende ist nicht vorherzusehen. Dabei stellt das Märchen eine fiktive Abbildung der Realität dar. Es bestehen deutliche Parallelen zwischen den beiden Welten. So wird z.B. jedem Protagonist ein Wesen der Märchenwelt zugeordnet. Während Abel in der realen Welt gleich mehrere Identitäten in sich zu vereinen scheint, wird er auch im Märchen von zwei Tieren dargestellt: Der Seelöwe ist der Helfer in Not für seine kleine Schwester und der Wolf taucht erst in den düsteren Passagen des Märchens auf. Anna ist nicht sicher, ob sie dem Wolf in Abel trauen kann, und dadurch wird auch der Leser verunsichert. Hierbei wird besonders deutlich, dass es Annas Gedanken sind, die durch das Buch führen. Der Leser denkt, erlebt und entdeckt mit ihr.

Die Sprache trägt zum Leseerlebnis bei: Sie ist gespickt mit zahlreichen Symbolen, wirkt anschaulich und dennoch realitätsnah. So spielt die gesamte Erzählung im Winter, was die typische, dunkle Kriminalromanatmosphäre schafft. Bestimmte florale Motive werden mit Blut und Tod verbunden. Beispielsweise stehen die Buschwindröschen für die Vergänglichkeit des Lebens, da sie ein Grab im Buchenwald markieren.

Ein uns fremdes, aber faszinierendes Symbol ist die melancholische Musik Leonard Cohens, die Personen einer bestimmten Generation im Roman miteinander verbindet, auch wenn uns selbst die Musik anfangs unbekannt war. Im Nachhinein wird die Wirkung der Musikzitate deutlich, denn sie untermalen die trübsinnige, schwermütige Stimmung einiger Textstellen.

Der Märchenerzähler ist für unsere Gruppe ein Buch wie kein zweites, das durch feinsinnige Vernetzung der Handlungsstränge, sowie eine gewählte, ausdrucksstarke Sprache besticht - in jedem Fall preiswürdig und lesenswert.





Zeit der Wunder
Anne-Laure Bondoux
Übersetzt von Maja von Vogel
Carlsen Verlag
Webseite der Autorin zum Buch
Inhaltsangabe des Verlags
Jurybegründung Kritikerjury DJLP 2012









„Ich heiße Blaise Fortune und ich bin Bürger der Französischen Republik. Das ist die reine Wahrheit.“
Der junge KoumaÏl ist gerade einmal sieben Jahre alt als er in den 1990er Jahren wie tausende andere Menschen vor den Wirren des ersten Kaukasuskonflikts aus seiner Heimat flieht. Immer an seiner Seite ist seine Ziehmutter Gloria. Gemeinsam flüchten sie vor dem Krieg, ihr großes Ziel vor Augen: am Ende im Land der  Menschenrechte – Frankreich – anzukommen.
Anne-Laure Bondoux zeigt in ihrem Roman „Die Zeit der Wunder“ die Geschehnisse durch die unschuldige und optimistische Sichtweise KoumaÏls. Sie schafft es die Grausamkeiten des Krieges und die Widrigkeiten der Flucht darzustellen, ohne die emotionalen Aspekte ihrer Geschichte zu überziehen, oder wie häufig bei diesem Thema unnötig kitschig oder brutal zu werden. So behält KoumaÏl immer eine positive Sichtweise auf die Geschehnisse: „Wenn die Füße wehtun, stellt man sich einfach vor, sie gehören jemand anders, und beachten sie gar nicht. Denn die Füße eines anderen können einem schließlich nicht wehtun.“ Gleichzeitig bleiben bestimmte Dinge ungesagt, die der junge KoumaÏl nicht versteht oder nicht bewusst mitbekommt, sodass es dem Leser überlassen ist, eigene Bilder zu entwickeln.
Die kindliche Perspektive ist bestimmend für die Stilmittel, derer sich die Autorin bedient.
Es ist Winter. Ich bin acht Jahre alt.“ [...] „Nun bin ich zehn Jahre alt, habe ein gebrochenes Herz, blutige Füße, einen leeren Magen und breche mal wieder mit Gloria und unserem Marschgepäck ins Ungewisse auf[...].“
Diese wiederkehrenden Formulierungen bilden einen Rahmen, an dem der Leser sich festhalten kann und sie verdeutlichen die verschiedenen Stufen von KoumaÏls Entwicklung. Des weiteren fassen sie Geschehnisse der vorherigen Kapitel zusammen. Die Autorin benutzt KoumaÏls Altersangaben als Gerüst der Geschichte.

Auf ihrer Flucht nach Frankreich führen KoumaÏl und Gloria lediglich ein Schafsfell, ein Radio ohne Batterien, eine Geige ohne Seiten, einen grünen Atlas, einen Samowar und eine geheimnisvolle Box mit sich, deren Inhalt Gloria vor KoumaÏl verheimlicht. All diese Gegenstände haben für die Protagonisten einen hohen emotionalen Wert, deren Geschichten sich als roter Faden durch den ganzen Roman ziehen. So verfolgt KoumaÏl die Länder, die er durchquert hat, auf den Seiten seines grünen Atlas und verbindet den Geruch des Tees aus dem Samowar mit seiner Ziehmutter Gloria. Dies führt zu einer stärkeren Authentizität des Charakters KoumaÏl.
Auf ihrer französischenWebsite zeigt Anne-Laure Bondoux Bilder zu verschiedenen Stationen, welche sie zu ihrem Buch inspirierten und auf denen sie ihre Geschichte aufgebaut hat. So findet man dort neben der Fluchtroute KoumaÏls auch ein Bild einer Müllhalde, welche die Autorin als Vorbild für die Halde nahm, auf der KoumaÏl und Gloria eine Zeitlang gearbeitet haben.
Durch die realitätsnahe Darstellung von KoumaÏls Gefühlen und Betrachtungsweisen, sowie durch die verbindenden Stilelemente kann sich der Leser leicht in KoumaÏl hineinversetzen. Einerseits überzeugt der Roman mit seiner Themendarstellung, andererseits mit seiner besonderen Sprachwahl. Deswegen finden wir, dass die Autorin Anne-Laure Bondoux mit „Die Zeit der Wunder“ eine neuartige und unserer Meinung nach preiswürdige Betrachtung eines flüchtenden Kindes geschaffen hat.






Vango
Zwischen Himmel und Erde
Timothée de Fombelle

Übersetzt von Tobias Scheffel und Sabine Grebing
Gerstenberg Verlag
Inhaltsangabe Verlag
Jurybegründung Kritikerjury DJLP 2012



„Er hörte seinen eigenen Atem. Er dachte an das Leben, das ihn hergeführt hatte. Ausnahmsweise einmal hatte er keine Angst.“
Timothée de Fombelle erzählt in seinem neuen Roman „Vango“ von dessen geheimnisumwitterter Identität sowie seiner abenteuerlichen Flucht rund um den Globus. Die wichtigen Stationen dieser Flucht finden sich bereits auf dem Cover, welches viele verschiedene Orte zeigt: Paris, ein Kloster, eine Vulkanlandschaft, ein Dorf, eine angedeutete Weltkarte, auf der die USA in den Vordergrund tritt.
Im Zentrum des Covers: Vango, dargestellt als schwarzer Schatten, der sich abseilt. Und ein Zeppelin, der ein Meer überquert. Der Zeppelin ist einer der im Buch vorkommenden modernen und für seine Zeit schnellen Fortbewegungsmittel. Im Zeppelin, Flugzeug, oder Automobil legen die Figuren im Roman in kürzester Zeit große Entfernungen hinter sich. Sie rasen für die damaligen Verhältnisse durch die Welt, der Roman spielt um 1930.
Ähnlich rasant ist der Erzählstil von Timothée de Fombelle. Schnelle Abfolgen, filmreife Schnitte, sich Satz für Satz steigernde Spannung, ein Ereignis folgt auf das Andere … Der Autor nimmt seine Leser mit dem ersten Satz in den Bann, der immer schneller lesend durch die zunächst etwas verwirrende Geschichte jagt. Verwirrend da Vangos Flucht nicht chronologisch geschrieben ist. Als Leser springt man mitten in die Geschehnisse hinein erfährt durch Rückblenden Stück für Stück immer mehr von ihm. So wird zum Beispiel in einigen Rückblenden Vangos Kindheit auf Sizilien geschildert.

Weitere Figuren haben ihre eigene Geschichte und eine eigene Verbindung zu Vango: die Schottin Ethel folgt ihm, weil sie ihn liebt, ein mysteriöser aber scheinbar mächtiger Russe lässt ihn verfolgen, aber das gibt dem Leser Rätsel auf, ein französischer Kriminalpolizist verfolgt ihn, weil er ihn für einen Mörder hält. Das alles vom Autor filmreif inszeniert. Um Spannung aufzubauen, legt er falsche Fährten aus: Dass wohl passendste Beispiel hierfür ist die Jagd der SS nach einem blinden Passagier auf dem „Graf Zeppelin“, von dem der Leser natürlich glaubt, es handle sich um Vango. Der Leser schwitzt und zittert mit Vango um seine Flucht. Erst in letzter Sekunde wird klar, dass eine ganz andere Person gesucht wird.
Vango ist ein gut geschriebenes Buch mit einer spannenden und überraschenden Geschichte, welche Kinoqualität hat und generationsübergreifend begeistert.
Das Cover verspricht ein Abenteuer und hält sein Versprechen. Es ist eines unserer Favoriten auf der Nominierungsliste für den DJLP 2012. Wir finden es sehr Schade, dass das Buch den Preis nicht gewonnen hat.
Wer aber die gesamte Geschichte erfahren will muss auch zum zweiten Band greifen, der nahtlos an den ersten anschließt und die Geschichte zu Ende erzählt (Vango – Prinz ohne Königreich).

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